Skitourenguru

Entscheiden im Einzelhang

Einleitung

Sobald wir unsere Skitour sorgfältig geplant haben, kennen wir unsere Schlüsselstellen. Auch bei einer heiklen Lawinensituation machen wir nichts falsch, wenn wir bis unter die erste Schlüsselstelle aufsteigen. Doch nun, kurz vor der Schlüsselstelle sind wir aufgefordert eine angemessene Einzelhangbeurteilung durchzuführen. Unsere Beurteilung mag Unschärfen aufweisen, unser Entscheid hingegen ist glasklar, entweder Ja (go) oder Nein (don't go), dazwischen gibt es nichts. Die Entscheidung im Einzelhang ist die grosse Herausforderung für Wintersportler, die abseits der Piste unterwegs sind. Selbstkritische Lawinenexperten geben gerne zu, dass sie bei der Entscheidung im Einzelhang mitunter überfordert sind und passen müssen. Im Zweifelsfall kehren wir deshalb vor der ersten Schlüsselstelle um.

An Vorschlägen, wie wir zu einer Entscheidung kommen, fehlt es nicht. Die bekannten Vorschläge bewegen sich gewöhnlich im Spannungsfeld zwischen den sogenannten Probabilistischen Methoden und den Analytischen Methoden. Allen Vorschläge gemeinsam ist, dass sie Stärken und Schwächen aufweisen. Die Unvereinbarkeit vieler der Vorschläge legt den Gedanken nahe, dass der ultimative Wurf noch fehlt.

Die folgenden Kapitel geben einen Überblick zu den meisten der aktuell praktizierten Methoden. Der Fokus liegt dabei auf mehr oder weniger streng formalisierten Methoden. Es wurden auch Methoden aufgenommen, die keine eigentliche Entscheidung implizieren, aber wertvolle Informationen für einen Entscheid liefern. Für jede Methode werden Stärken und Schwächen aufgezählt. Reduktionsmethoden werden hier nicht behandelt, denn sie sind bereits in einem eigenen Artikel behandelt. Diese Bewertung ist weder vollständig, noch objektiv. Gerne nimmt Skitourenguru deine Gedanken zu den einzelnen Tools auf.

1. Entscheiden im Einzelhang (SLF)

Im Jahre 2016 hat das KAT (Kernteam Ausbildung Lawine) unter der Federführung des SLF in Achtung Lawine ein neues Einzelhangtool vorgestellt.

Fig. 1: Entscheiden im Einzelhang (© Achtung Lawine).

Um zu einem Ja/Nein-Entscheid zu gelangen, müssen Wintersportler zwei Fragen beantworten:

  1. Wie wahrscheinlich ist eine Lawinenauslösung? Die Frage wird unterteilt in zwei Aspekte: a) Inwieweit begünstigt das Gelände eine Lawinenauslösung? b) Inwieweit begünstigen die aktuellen Schnee- und Lawinenverhältnisse eine Lawinenauslösung?
  2. Was wären die zu erwartenden Konsequenzen einer Lawinenauslösung (Verschüttungstiefe und/oder Absturz)?

Je nach Antwort befinden wir uns im Go- oder NoGo-Bereich. Durch entsprechendes Verhalten lässt sich unter Umständen etwas Spielraum gewinnen (roter Pfeil). Eine detaillierte Abhandlung inklusive Beispielen findest du im Artikel To go or not to go des SAC-Hefts "Die Alpen" 1/2018.

Stärken:

  • Hier werden die richtigen Fragen gestellt. Auch wenn es nicht möglich ist die Fragen eindeutig zu beantworten, werden Wintersportler animiert sich mit den Fragen auseinanderzusetzen.

Schwächen:

  • Fehlende Reproduzierbarkeit: Übungen in der Gruppe offenbaren eine grosse Bandbreite im Schlussresultat. Dies hängt u.a. damit zusammen, dass die Fragen oft vermischt werden.
  • Unlogische Resultate: Ein ausgesprochener Lawinenhang, der im Falle einer Lawinenauslösung gravierende Konsequenzen erwarten lässt, fällt auch bei "sehr günstiger" Schnee- und Lawinensuituation in den NoGo-Bereich.
  • Hohe Anforderungen: Die Beantwortung der drei Einzelfragen ist ähnlich anfordernd, wie die Eingangsfrage (To go or not to go?). Übungen zeigen, dass es auf Grund der hohen Anforderungen eine starke Tendenz gibt die drei Faktoren in der Mitte anzusiedeln.
  • Fehlende Grundlage: Die Ausgestaltung des Tools hat keine eigentliche Grundlage. Insbesondere bleibt unklar, worauf die Trennlinie zwischen dem Go-Bereich und NoGo-Bereich beruht.

2. Nivocheck (W. Munter und SBV)

Der Nivocheck - auch Gefahrencheck genannt - ist ein Werkzeug zum selbständigen und eigenverantwortlichen Einschätzen der lokalen Gefahrenstufe. Damit ist der Nivocheck in der Phase 2 (Vor Ort) angesiedelt. Wenn die resultierende Gefahrenstufe jedoch noch mit einer Reduktionsmethode kombiniert wird, dann kann das Kombi-Pack aus "Nivocheck plus Reduktionsmethode" als ein Decision Framkework betrachtet werden.

Fig. 2: Der Nivocheck 2.0 (© Schweizer Bergführerverband SBV)

Um zu einer lokalen Gefahrenstufe zu gelangen, müssen wir in obiger Tabelle Kreuze einfügen. Dabei sind auch Zwischenwerte möglich. Zum Schluss resultiert eine lokale Gefahrenstufe. Es gibt verschiedene Varianten des Nivochecks. Eine abgewandelte Form wird bspw. im Buch Avalanches von Moret / Deschamps vorgestellt. Beim Nivocheck 2.0 SBV muss zuvor das aktuelle Lawinenproblem bestimmt werden. Dies  kann bspw. mit Hilfe des Muster-Analysers (siehe weiter unten) geschehen. Der Nivocheck 2.0 ist Teil des Lawinen-Handbuches SBV, das bei PizBuchUndBerg bezogen werden kann.

Stärken:

  • Die lokale Beurteilung wird kombiniert mit der Gefahrenstufe aus dem Lawinenbulletin.
  • Hier wird systematisch mit einer bekannten Skala, nämlich mit der Lawinengefahrenstufe gearbeitet.
  • Die Fragen sind weitgehend eindeutig und einigermassen beantwortbar.
  • Es wird konsequent nach dem Lawinenproblem unterschieden.
  • Die Methode kann gut mit einer Reduktionsmethode kombiniert werden.

Schwächen:

  • Es besteht die Tendenz, dass als Resultat ein Wert zwischen mässig und erheblich erscheint. Damit stehen wir oft wieder dort, wo wir am Anfang schon standen.
  • Die Methode weist ein Problem mit dem Skalenniveau auf. Kann ein "Plus" aus der einen Kategorie ein "Minus" einer anderen Kategorie aufheben?
  • Die Methode führt in die Irre, falls das Lawinenproblem falsch bestimmt wird bzw. nicht bestimmt werden kann (siehe auch Muster-Analyser).

3. Extended Column Test (ECT)

Beim ECT handelt es sich um einen einfachen Schneedeckenstabilitätstest. Zunächst wird ein Block der Länge 90 cm und der Breite 30 cm freigelegt. Nun wird die Schaufel am rechten Rand aufgelegt und systematisch auf die Schaufel geschlagen:

  1. Zehn Schläge aus dem Handgelenk.
  2. Zehn Schläge aus dem Ellbogen.
  3. Zehn Schläge aus aus Schulter.

Dabei wird genau beobachtet, ob und wo der der Block bricht. Mit Hilfe unterstehender Tabellen können wir anschliessend die Schneedeckenstabilität ableiten. Ein Ja/Nein-Entscheid darf sich jedoch nicht einzig auf einen Stabilitätstest stützen.

Fig. 3: Interpretation eines ECT (© BergUndSteigen, Nr. 98)

Mehr Informationen findest du in Schneedekenanalyse für Praktier (BergUndSteigen, Nr. 98). Neben dem ECT, gibt es eine ganze Reihe weiterer Schneedeckenstabilitätstest

Stärken:

  • Informationsgewinn, indem ein Blick in den Schnee geworfen wird.
  • Einigermassen objektives Verfahren und damit eine eindeutige Antwort.

Schwächen:

  • Die Variabilität der Schneedecke kann dazu führen, dass ein Test an anderer Stelle zu einem anderen Resultat geführt hätte. Deshalb darf sich der Ja/Nein-Entscheid nicht auf einen einzigen Stabilitätstest abstützen. Die Frage der örtlichen Variabilität von Schneeprofilen und Schneedeckenstabilität wird in wissenschaftlichen Kreisen heiss diskutiert. Dabei orientieren sich die Meinungen nicht immer an der Empirie, sondern am erwünschten Resultat.
  • Zeitverlust: Wer von Risiko spricht, muss auch den Preis der Informationsgewinnung miteinbeziehen.
  • Nur eine Minderheit der Wintersportler wird sich überzeugen lassen, regelmässigen Stabilitätstests durchzuführen. Eine Methode muss sich auch daran messen lassen, inwieweit sie sich überhaupt in die Skitouren-Comunity tragen lässt.
  • Probleme bei der Interpretation des Schneeprofils. Es gibt nach wie vor keine klare Abbildung vom Schneeprofil zur Schneedeckenstabilität.
  • Entkopplung von anderen Informationen, die zur Verfügung stehen (Lawinenbulletin, Lawinenprobleme, Alarmsignale).

4. Nivo-Test (R. Bolognesi)

Der Nivo-Test wurde von Robert Bolognesi entwickelt. Es gibt ihn als Smartphone-App, als Karton-Disk oder als gedrucktes Formular. Inhaltlich unterscheiden sich die drei Varianten nicht. Da der Nivo-Test kommerziell vertrieben wird, kann er hier nur ansatzweise vorgestellt werden.

In einem ersten Fragekatalog müssen für 24 Fragen Malus-Punkte vergeben werden. In einem zweiten Fragekatalog können für 13 Fragen Bonus-Punkte vergeben werden. Die Fragen drehen sich um folgende Themen:

  • Fragen zur Schneedecke und zum Wetter
  • Fragen zur Topographie
  • Fragen zu den Teilnehmern bzw. zur Gruppe

Nachdem alle Bonus-Punkte und Malus-Punkte bekannt sind, werden diese aufsummiert. Aus folgender Tabelle kann mit Hilfe der finalen Punktzahl (1..66) ein Smiley abgeleitet werden. Das Smiley entspricht der lokalen Risiko-Einschätzung.

Fig. 4: Der Nivo-Test (© Robert Bolognesi)

Wer möchte kann nun noch die lokale Risikoeinschätzung mit der Gefahrenstufe gemäss Lawinenbulletin kombinieren. Es resultiert eine Kategorie A, B, C oder D. Diese Kategorie kann wiederum in einen Entscheid umgemünzt werden.

Stärken:

  • Die Fragen sind relativ klar und beantwortbar. Dadurch resultiert ein einigermassen reproduzierbare Methode.
  • Kombination mit der Gefahrenstufe aus dem Lawinenbulletin ist möglich.

Schwächen:

  • Alarmsignale sind nicht vollständig: Wumm-Geräusche kommen nicht vor.
  • Die Hangneigung hat ein schwaches Gewicht.
  • Kernzone aus dem Lawinenbulletin wird ignoriert.
  • Das Punktesystem erlaubt es nicht Verzweigungen zu implementieren.
  • Keine Integration der Lawinenprobleme.
  • Der Fragekatalog ist relativ lange.
  • Es bleibt unklar weshalb bei welcher Frage wie viele Punkte vergeben werden können.

 5. Stop or Go (ÖAV)

Angeregt von Werner Munters Reduktionsmethode (RM) entwickelte der Österreichische Alpenverein (OeAV) das Risiko-Mananagement-Konzept "Stop or Go". Es basiert auf zwei Checks. Der erste Check ist identisch mit der Elementaren Reduktionsmethode von Werner Munter. Der zweite Check findet im Einzelhang statt und stellt drei Fragen (siehe Bild).

Fig. 5: Stop Or Go (© Österreichische Alpenverein)

Jeder der beiden Checks kann zu einem Nein führen. Mehr zum Tool findest du in Stop Or Go (BergUndSteigen, 4/2012). Mario Pichler at. al. haben am ISSW 2014 ein Bayessches Netzwerk vorgestellt, das die Methodik von "Stop Or Go" abbildet: About probabilistic graphical models in probabilistic avalanche science. Die Stossrichtung ist zukunftsweisend, ob "Stop or Go" aber hinreichend ist, steht auf einem anderen Blatt.

Stärken:

  • Sehr einfach gehalten und damit auch für Einsteiger umzusetzen. Diese Stärke hat ein grosses Gewicht!

Schwächen:

  • Die Einfachkeit ist auch die Hauptschwäche der Methode. Den Realitäten im Einzelhang können die Checks kaum standhalten.

6. Muster-Analyser

Heute spricht man von Lawinenproblemen und nicht mehr von Schneemustern. Gemeint sind folgende vier Lawinenprobleme: Neuschnee, Triebschnee, Altschnee und Nassschnee. Mit Hilfe des Muster-Analysers werden für jedes der Lawinenprobleme 6 bis 7 Fragen gestellt. Für jede Frage muss ein Kreuz gesetzt werden. Als Resultat erscheint ein vierteiliger Indikator, der farblich an den vier Gefahrenstufen angelehnt ist. Wenn die Gefahrenstufe mit einer Reduktionsmethode kombiniert wird, dann kann das Kombi-Pack aus Muster-Analyser plus Reduktionsmethode" als ein Decision Framkework betrachtet werden.

Fig. 6: Muster-Analyser (© Stephan Harvey / SLF)

Stärken:

  • Die Fragen sind relativ klar und beantwortbar. Dadurch resultiert eine einigermassen reproduzierbare Methode.
  • Die Methode kann gut mit einer Reduktionsmethode kombiniert werden.

Schwächen:

  • Die Komplexität der real existierenden Schneedecke mit vier Lawinenproblemen abzuhandeln ist ein reichlich optimistischer Ansatz. Nicht nur, können Lawinenprobleme horizontal und vertikal angeordnet sein, vermutlich gibt es auch ungezählte Mischformen.
  • Wording und Symbolik stimmen nicht überein. Die vier Farben deuten an, dass der Muster-Analyser als Ergebnis eine Gefahrenstufe liefert. Ob dem wirklich so ist, wird nicht klar kommuniziert.

Fazit

Alle der vorgestellte Methoden bringen einen spannenden Mehrwert. Es bleibt jedoch der Eindruck, dass eine Fusion der Ideen noch nicht gelungen ist. Zudem klammern die meisten Tools die Skills der real existierenden Skitouren-Community aus.

Folgende Informationen müssten zwingend in das Idealtool einfliessen:

  • Vollständiger Miteinbezug der Geländeeigenschaften (siehe Geländeklassifikation gemäss ATES oder einem ähnlich gelagertem Konzept).
  • Vollständiger Miteinbezug der strukturierten Information aus dem Lawinenbulletin (Gefahrenstufe, Kernzone und Lawinenprobleme).
  • Miteinbezug der lokalen Lawinenprobleme: Insbesondere muss klar zwischen dem prognostizierten und dem lokalen Lawinenproblem unterschieden werden.
  • Miteinbezug aller Alarmsignale.
  • Informationen zur Gruppe bzw. zu den Teilnehmern.
  • Informationen zur Befahrungs-Historie des Hanges.
  • Optionaler Miteinbezug eines ECT.

Ein Tool muss insbesondere folgenden Anforderungen genügen:

  • Die Fragen sollten einfach und damit beantwortbar sein. Erst wenn diese Anforderung erfüllt ist, ergeben sich reproduzierbare Resultate.
  • Der Fragekatalog sollte nicht zu lange sein. Aus dieser Anforderung ergibt sich fast zwingend die Entwicklung einer App. Durch eine App wird es möglich einen Teil der Information automatisch einfliessen zu lassen. So können Fragekataloge gekürzt werden.
  • Das Resultat muss klar und eindeutig sein, d.h. konkret ein Ampelwert: Grün, Orange oder Rot. Ansonsten wird nur wieder ein neuer Interpretationsspielraum eröffnet.
  • Ein Tool mus sich auch daran messen lassen, inwieweit es von der real existierenden Skitouren-Community angewendet wird.

Die Entwicklung eines neuen Tool sollte in einer engen Verschränkung zwischen Experten und Anwendern stattfinden. Nicht zuletzt wäre es auch wichtig, dass neue Tools vor dessen Einführung breit diskutiert werden.