Zielbewertung versus Streckenbewertung
1. Eingangsfrage
Skitourenguru bewertet sowohl einzelne Abschnitte eines Routenverlaufes, wie auch Routen als ganzes:
- Streckenbewertung: Jeder Routenabschnitt der Länge 10 m erhält einen Farbwert: grün (tiefes Risiko), orange (erhöhtes Risiko) und rot (hohes Risiko).
- Zielbewertung: Jede Route als gesamte Route erhält einen sogenannten Risiko-Indikator: grün (tiefes Risiko), orange (erhöhtes Risiko) und rot (hohes Risiko).
Nun kann es geschehen, dass eine orange Route rote Abschnitte aufweist. Es kann auch geschehen, dass eine Route, die im gesamten Routenverlauf grün angezeigt wird dennoch als ganze Route orange wird. Wie ist das möglich?
Beim Klettern bestimmt die schwierigste Stelle den Schwierigkeitsgrad der gesamten Route. Wir bilden gewissermassen das Maximum der einzelnen Stellen. Bei Skitourenguru ist es eben genau nicht so.
2. Streckenbewertung
Regnet es morgen? Eigentlich gibt es nur zwei Antworten: Ja oder Nein. Löst eine spezifische Hangstelle aus, wenn ich sie betrete? Es gibt nur zwei Antworten: Ja oder Nein. Ungeschickterweise kennen wir die Antwort aber immer erst im Nachhinein (ex-post). Dann nützt uns die Antwort aber nichts mehr. Wir wüssten sie schon gerne im voraus (ex-ante). Wenn wir in einer perfekten Welt leben würden, dann hätten wir einen perfekten Informationsstand über die Schneedecke und zudem perfekte Modelle um die Schneedeckenstabilität zu berechnen. Wir könnten dann die Frage vorhersagend mit Ja oder Nein beantworten. In einer realen Welt leiden wir aber unter zwei Problemen:
- Practical ignorance: Wir haben wenig bis kein Wissen zur Schneedecke in unserem Hang.
- Theoretical ignorance: Die Modelle, die aus einer Schneedecke die Stabilität ableiten sind noch nicht wirklich gut genug.
Was machen wir angesichts dieser ungemütlichen Ausgangslage. Wir behelfen uns eines sehr abstrakten und schwer verständlichen Konstrukts namens Wahrscheinlichkeit. Konkret suchen wir Prädiktoren (vorhersagende Faktoren), die es erlauben die Wahrscheinlichkeit einer Lawinenauslösung abzuschätzen. Schon mal ganz passable Prädiktoren sind die Gefahrenstufe und die Neigung. Skitourenguru geht noch zwei Schritte weiter und hat die sogenannte Quantitative Reduktionsmethode (QRM) entwickelt, um diese Wahrscheinlichkeitsabschätzung vorzunehmen. Mit der QRM wird es möglich jedem Routenabschnitt unserer Route eine Lawinenauslösewahrscheinlichkeit zuzuweisen:
- Sofern diese Lawinenauslösewahrscheinlichkeit unterhalb einem ersten Schwellenwert (p-th1) liegt, wird der Abschnitt grün eingefärbt.
- Sofern diese Lawinenauslösewahrscheinlichkeit oberhalb dem ersten Schwellenwert (p-th1), aber unterhalb eines zweiten Schwellenwert (p-th2) liegt, wird der Abschnitt orange eingefärbt.
- Sofern diese Lawinenauslösewahrscheinlichkeit oberhalb dem zweiten Schwellenwert (p-th2) liegt, wird der Abschnitt rot eingefärbt.
Damit haben wir nun den ganzen Routenverlauf eingefärbt. Aber aufgepasst: Grün ist nicht gleich grün. Orange ist nicht gleich orange. Und insbesondere gilt: Rot ist nicht gleich rot. Hinter jedem Routenabschnitt der Länge 10 m verbirgt sich eine ganz andere Lawinenauslösewahrscheinlichkeit. Ein roter 10m-Abschnitt kann quasi tief-rot sein oder nahe am Kippen in den orangen Bereich. Die Unterschiede innerhalb einer Farbe sind insbesondere im roten Bereich gewaltig.
3. Zielbewertung (Routenbewertung)
Mittlerweile kennen wir die Lawinenauslösewahrscheinlichkeit für jeden 10 m langen Abschnitt von unserer Route. Wie gross ist nun der Risiko-Indikator der Route als Ganzes? Wir könnten nun denjenigen Abschnitt mit der höchsten Lawinenauslösewahrscheinlichkeit bei ziehen. Aber aufgepasst, das wäre ziemlich unfair. So könnten wir zwei Routen haben die den selben Maximalwert aufweisen, aber sich ansonsten stark unterscheiden: Die eine Route weist überall diesen Maximalwert auf. Die andere Route hat einen Peak mit dem Maximalwert, ansonsten sei die Lawinenauslösewahrscheinlichkeit nahe bei null. Die erste Route ist natürlich viel heikler. Wir müssen also alle Abschnitte berücksichtigen. Wir brauchen eine Methode, um die vielen kleinen Lawinenauslösewahrscheinlichkeiten aller 10m-Abschnitte zum Risiko-Indikator zu aggregieren oder verdichten. Die Lösung liegt in der Wahrscheinlichkeitsrechnung:
Angenommen unsere Route ist 30 m lang. Im ersten Abschnitt lösen wir den Hang mit einer Wahrscheinlichkeit von p=1/6 aus, den zweiten Abschnitt mit p=1/8 und den letzten Abschnitt mit p=1/5. Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir eine Lawine auslösen, wenn wir die ganze Route begehen? Das ist einfache Wahrscheinlichkeitsrechnung. Sie lässt sich besser bewältigen, wenn wir nach der Wahrscheinlichkeit, dass wir keinen einzigen Hang auslösen fragen? Wir rechnen also mit Gegenwahrscheinlichkeiten. Die Lösung lautet:
p = 1- (4/5)*(7/8)*(4/5)
Wenn du das besser verstehen willst, dann findest du unter Wahrscheinlichkeitstheorie weitere Informationen.
4. Zurück zur Eingangsfrage
Nun kann es geschehen, dass eine orange Route rote Abschnitte aufweist: Dies kann dann geschehen, wenn der rote Abschnitt kurz ist und die Lawinenauslösewahrscheinlichkeiten auf den roten Abschnitten nahe bei orange liegen. Eine kurze Stelle, die zwar rot ist, aber nahe bei orange liegt, können wir noch ertragen.
Es kann auch geschehen, dass eine Route, die im gesamten Routenverlauf grün angezeigt wird dennoch als ganze Route orange wird: Dies kann dann geschehen, wenn die Route lange ist und die vielen kleinen 10 m langen Abschnitte Lawinenauslösewahrscheinlichkeiten aufweisen, die zwar knapp noch im grünen Bereich liegen, aber schon nahe bei orange liegen. Kleinvieh macht auch Mist.
5. Wie nutze ich die gegebene Information?
Am Schluss geht es um die Frage, wie du die verfügbare Information gut nutzt:
- Zielbewertung: Mit Hilfe des Risiko-Indikator lassen sich Routen vergleichen. Der Risiko-Indikator dient also primär dazu gute Kandidaten (Routen) zu finden. In diesem Zusammenhang könnten wir auch von Routen-Triage sprechen.
- Streckenbewertung: Dank der Streckenbewertung fällt dein Blick sofort auf kritische Stellen der Routen. Beachte dazu aber auch das Thema Schlüsselstellen (schwarze Ringe). Dank der Streckenbewertung und der Schlüsselstellen (schwarze Ringe) weisst du wo du während der Skitour eine Einzelhangbeurteilung vornehmen musst.